Geht es, wie im normativen Umfeld oft der Fall, nicht nur um Begrifflichkeiten, sondern auch um deren Bedeutung und Auslegung, kann es schon mal komplex werden. Im Folgenden sollen die wichtigen Begriffe Primärversorgung, Sekundärversorgung und zusätzliche Versorgung in Rechenzentren einmal interpretiert und die Auswirkungen der einzelnen Versorgungssituationen auf Rechenzentrumsneubau-, aber insbesondere auch auf Sanierungsprojekte hin untersucht werden.
Vier Verfügbarkeitsklassen und drei Versorgungsarten
Die DIN EN 50600-2-2 behandelt gemäß ihrem Titel Stromversorgung und Stromverteilung und fokussiert dabei auf Einrichtungen und Infrastrukturen von Rechenzentren (Bild 1). Sie benennt vier Qualitätsstufen, bezogen auf Verfügbarkeit und Redundanz, die sogenannten Verfügbarkeitsklassen. Diese Klassen sind jedoch innerhalb der Norm nicht vorrangig durch individuelle technische Lösungen charakterisiert, vielmehr werden funktionale Anforderungen aufgestellt. Und zum besseren Verständnis werden für diese funktionalen Anforderungen Beispiele der technischen Ausprägung wiedergegeben.
In diesen Beispielen ist gut zu erkennen, dass den Begriffen Primär- und Sekundärversorgung eine wesentliche Bedeutung zukommt, insbesondere in der populären Verfügbarkeitsklasse VK3. Doch bevor wir einsteigen, schauen wir uns erst einmal die normative Begriffsdefinition der drei Versorgungsarten an:
- Primärversorgung: Hauptversorgung, die unter normalen Betriebsbedingungen Strom für das Rechenzentrum bereitstellt
- Sekundärversorgung: Stromversorgung, die unabhängig von der Primärversorgung ist und jederzeit verfügbar ist, um das Rechenzentrum bei einer Unterbrechung der Primärversorgung mit Strom zu versorgen
- Zusätzliche Versorgung: Stromversorgung, die bei Ausfall der Primär- und/oder Sekundärversorgung Strom liefert.
Da diese drei Texte nun in vielerlei Hinsicht interpretierbar sind, haben die Väter der Norm entsprechende Beispielbilder dazu entwickelt. Demnach stellt sich die Situationen in der Verfügbarkeitsklasse 3 wie in den Bildern 2 und 3 zu sehen dar. Die Darstellungen lassen jedoch noch immer Interpretationsspielraum zu, so dass weitere Erläuterungen notwendig sind.
Weitere Primärversorgung oder Sekundärversorgung?
Eine Primärversorgung stellt demnach eine erste übliche Normalversorgung aus dem öffentlichen Stromnetz dar, das ist so weit offenkundig. Die seit langen Jahren übliche und praxiserprobte zweite Einspeisung aus dem Netz muss nun differenziert betrachtet werden, um festzustellen, ob es sich um eine weitere Primärversorgung oder um eine Sekundärversorgung handelt. Bei Betrachtung der oben zitierten Definitionen sind die Forderungen an eine (qualitativ hochwertigere) Sekundärversorgung nur dann erfüllt, wenn eine Unabhängigkeit von der Primärversorgung besteht, andernfalls handelt es sich um eine zweite Primärversorgung, eine Einspeisung zweiter Klasse quasi.
Was nun diese Unabhängigkeit konkret bedeutet, ist im Einzelfall durch den Planer zu ermitteln:
- Eine vollkommene Unabhängigkeit wäre zweifelsfrei gegeben, wenn die Speisung der zweiten Versorgung aus einem zweiten Umspannwerk erfolgt.
- Bereits bei zwei getrennten Einspeisungen, die aus demselben Umspannwerk kommen, wird die Sache heikel. Denn tritt im Umspannwerk an einer Stelle einen Schaden auf, und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieser Schaden andere Bereiche in Mitleidenschaft zieht, kann nicht mehr von einer unbedingten Unabhängigkeit ausgegangen werden.
- Im Falle eines gemeinsamen Mittelspannungsringes, der sowohl Netz A wie auch Netz B eines Rechenzentrums versorgt, ist es mit der Unabhängigkeit endgültig vorbei. Denn selbst der theoretische Fall, dass dieser Mittelspannungsring offen gefahren wird, und sich die Trennstelle genau zwischen den beiden Transformatoren des Rechenzentrums befindet, löst das Problem nicht. Denn durch eine einfache Störung in diesem Ring muss die offene Verbindungsstelle geschlossen werden und das Rechenzentrum hängt als Stich an nur noch einer Versorgung.
Reicht eine Netzersatzanlage für Netz A und B?
Warum diese Betrachtung von Primär- und Sekundärversorgung hier so ausführlich erfolgt, hat einen wichtigen Grund. Denn sind die beiden Versorgungen tatsächlich unabhängig voneinander, und damit als Primär- und Sekundärversorgung zu werten, reicht es aus, im Rechenzentrum nur eine zusätzliche Versorgung, sprich eine Netzersatzanlage für Netz A und B zu installieren. Ist diese Unabhängigkeit aber nicht gegeben, muss von zwei Primärversorgungen ausgegangen werden, und es müssen entsprechend mehrere redundant ausgeprägte Netzersatzanlagen installiert werden, so wie in den Bildern 2 und 3 aufgezeigt.
Doch was folgt nun daraus für denjenigen, der eine Konzeption oder eine Planung für einen Rechenzentrumsneubau oder ein Sanierungsvorhaben zu bewältigen hat? Gerade im Sanierungsfall wird man häufig auf Situationen stoßen, die aus den Best-Practice-Methoden aus Zeiten vor der DIN EN 50600 in der jetzigen Form stammen. Häufig wurden seinerzeit Netzeinspeisungen realisiert, die damals dem Anspruch der Hochverfügbarkeit gerecht wurden, aus heutiger normativer Sicht aber nicht mehr als unabhängig gewertet werden können. Die damalige Interpretation lies es zu, an einem solchen Standort mit nur einer Netzersatzanlage zu arbeiten.
Im Sanierungsfall die ganze Konstellation auf den Prüfstand stellen
Möchte man einen solchen Standort im Sanierungsfall nach der VK3 der EN 50600 ausrichten, was durch deren Einführung als anerkannte Regel der Technik sicherlich empfehlenswert ist, gilt es, diese gesamte vor Jahren gewählte Konstellation auf den Prüfstand zu stellen. Nur wenn zweifelsfrei in Abstimmung mit dem örtlichen Energieversorger bzw. lokalen Verteilnetzbetreiber nachgewiesen werden kann, dass eine Unabhängigkeit der beiden Einspeisungen untereinander gegeben ist, kann mit einer singulären Netzersatzanlage weiter operiert werden.
In vielen Fällen wird es aber nicht gelingen, diesen Nachweis zu erbringen. Nun gibt es mehrere Möglichkeiten, mit der Situation umzugehen.
- Die Darstellungen in der Norm sind immer nur Beispieldarstellungen, die die bindenden funktionalen Anforderungen illustrieren. Die reale Situation muss mit der individuellen Gefährdung in Einklang gebracht werden. Eine initiale Gefährdungs- und Risikoanalyse könnte zu dem Schluss kommen, dass für den künftigen Betrieb nach wie vor eine Netzersatzanlage hinreichend ist, indem beispielsweise kritische Prozesse ausgelagert oder anderweitig weitergeführt werden können.
- Ein zweiter Weg wäre es, gemäß den Beispielen der Norm künftig mit zwei Netzersatzanlagen zu operieren.
Bezogen auf Verantwortlichkeit und Tragweite eventueller künftiger Schadensfälle ist vorhersehbar, dass der zuletzt genannte Weg mehr und mehr an Akzeptanz gewinnen wird. Ausdrücklich nicht gelöst wird das Problem durch das Vorhalten eines Anschlusspunktes für eine mobile Netzersatzanlage. Zum Erfüllen der Redundanzanforderungen für Netzersatzanlagen müssen diese fest installiert und dauerhaft einsatzbereit sein.
Man darf nicht vergessen, dass die Norm europaweit eingesetzt werden darf und dass nicht alle Versorgungssituationen mit jener in Deutschland zu vergleichen sind. Jedoch gerät auch bei uns zusehends das Thema einer stabilen Stromversorgung mehr und mehr ins Wanken, so dass die Investition in eine Redundanz bei Netzersatzanlagen sicher nicht die schlechteste Entscheidung sein dürfte.
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